Den Trend verpennt?

Fortschritt und Innovation auch abseits des Internet.

Am 24. und 25. September fand der diesjährige ECR-Tag in Bonn unter dem Motto "Channel Management in der Value Chain 4.0" statt. Allein der Titel verrät, die Branche ist in Bewegung, es ändert sich was. Die Anglifizierung der Sprache unterstreicht das Bemühen, Fortschritt und Innovation auch abseits des Internet in den Fokus zu rücken.

"E-Commerce – der Endgegner des stationären Handels", wie Joachim G. Fuchs in seinem Artikel auf t3n titelt, beherrscht a Gazetten. Mal als Omni-Channel, mal als mobile Commerce, mal als Click&Collect, das Thema ist offensichtlich vielfältig. Jeder hat Angst, einen wichtigen Trend zu verpennen. Oder handelt es sich gar um eine dieser "disruptiven" Technologien, die mittelfristig gar zum Tod der herkömmlichen Strukturen führt?

Oliver Samwer, Mitbegründer von Zalando und eine der Ikonen des Internet-Business, prognostiziert, dass 80 Prozent aller stationären Händler die kommenden Jahre nicht überleben werden. Dass disruptive Technologien in der Lage sind, etablierte Weltmarktführer zu stürzen, lässt sich anhand vieler Beispiele dokumentieren. Gerade zur Zeit kann man beobachten, wie z.B. die Energieriesen EON und RWE darum kämpfen, Fuß im Bereich der regenerativen Energien zu fassen. Die Konzentration auf die fossilen und atomaren Brennstoffe hat zwar in der Vergangenheit mehr als auskömmliche Erträge gesichert, mittlerweile ist aber unklar, ob die beiden die Kosten für den Atomausstieg in Höhe von ca. 30 Mrd. Euro überhaupt stemmen können. Bei der Hypothek mag man von Innovationen und Invests in regenerative Energien fast gar nicht mehr sprechen.

Auch die etablierte Automobilbranche zittert derzeit. "Klammheimlich und leise" haben sich die Nerds von Google und Apple in ihre Domäne vorgearbeitet und basteln an dem selbstfahrenden, vollvernetzten Auto. Die deutschen Automobiler reagieren, schließen sich zu einer – von der Bundesregierung beschworenen Leit-Gemeinschaft zusammen – und kaufen gemeinsam den ehemaligen Nokia-Kartendienst. Das Ende: Ungewiss – aber spannend. Denn: Konkurrenz belebt das Geschäft!

Aber zurück zum Point of Sale: Das zentrale Bedürfnis des Shoppers hat sich nicht geändert: Er will sein Produkt in kürzester Zeit zum besten Preis bekommen. Klingt einfach, ist es aber heute nicht immer. Dank Smartphone ist heute nicht nur jede Information, sondern auch jedes Produkt im Handumdrehen zu beschaffen. Dies verändert die Erwartungshaltung der Shopper. Denn was der Shopper kann, das erwartet er auch vom Händler.

Und auch hier hat mit Amazon der Urvater des Internet-Handels längst die Bühne betreten. Nicht nur im Bereich der Bücher und Medien, sondern auch im Bereich der Lebensmittel probiert und testet der Internet-Gigant munter vor sich hin. Amazon Fresh, Amazon Dash, Amazon Flow – hinter diesen Schlagworten verstecken sich Initiativen, die den stationären Einzelhandel revolutionieren können. Als Schmankerl obendrauf erfolgt die Auslieferung im Zukunfts-Szenario von Amazon dann als "same day delivery" per Drohne.

Dagegen setzt der stationäre Handel auf der Innovationsbühne auf Indoor-Navigation, Mobile Couponing oder BLE (Bluetooth Low Energy)-Beacons. Wenn man dem Innovationsforscher Reinhold Bauer folgt, der sagt "Innovation setzt ein wirtschaftlich verwertbares Produkt oder einen veränderten Herstellungsprozess mit entsprechender Produktivitätssteigerung voraus", dann dürfen wir gespannt verfolgen, welchen Mehrwert diese Technologien dem stationären Einzelhandel bieten werden.
Der Mehrwert innovativer Technologien auf der Fläche ist auch vom Produkt und vom Kanal abhängig. Bei Investitionsgütern z.B. will der Kunde vergleichen, es handelt sich um eine komplexe Entscheidung, da die Produktvorteile und der Preis nicht auf den ersten Blick erkenntlich sind. Hier ist Beratung dringend geboten. Aufgrund der schnellen Entwicklungszyklen hinken oftmals auch die Verkäufer hinterher, teilweise sind sogar die Kunden – dank Internet – besser über bestimmte Produkte informiert als der Verkäufer selbst.

Ein guter Verkäufer hat "Informationskompetenz" und kann sich fehlende Informationen im Verkaufsgespräch ad hoc besorgen. Dafür müssen die Verkäufer natürlich mit den entsprechenden Geräten ausgestattet sein. Ad hoc bedeutet in diesem Zusammenhang, dass der informationskompetente Verkäufer maximal wirtschaftlich mit dem höchsten Gut seiner Kunden – deren Zeit – umgehen muss. Benötigt der Verkäufer genauso lange oder im schlimmsten Fall noch länger als der Kunde selbst für die Recherche der fehlenden Informationen, geht der Schuss nach hinten los.
Die Auszeichnung der Produkte mit speziellen Barcodes und die Verknüpfung mit entsprechenden Hersteller-Informationen – besser noch mit neutralen Produktplattformen, auf denen man auch entsprechende Testberichte oder Alternativangebote findet – können nicht nur den Verkäufer, sondern auch schon den Kunden selbst in die Lage versetzen, eine schnelle Kaufentscheidung vor Ort zu treffen.

Gerade bei Investitionsgütern kann ich mir gut vorstellen, dass ich dann den Kauf des Geräts ebenfalls über mein mobiles Gerät abschließe, inkl. Bezahlung. Ich muss nicht mehr warten, bis mir der schmächtige Verkäufer das Gerät aus dem Lager geholt hat, ich stehe nicht mehr an der Kasse in der Schlange und wuchte auch nicht mehr den 75 ZollFernseher durch die viel zu kleine Kofferraumöffnung auf die umgeklappten Rücksitze. Stattdessen liefert mir der Händler das Produkt direkt nach Hause.
Durch diese Art des Einkaufens kann sich der Handel eine Menge Kapitalbindung sparen. Auch das Thema Verfügbarkeit ist so in den Griff zu bekommen. Das Ladenlokal dient als Bühne und Ausstellungsraum, in dem ich als Händler meine Kompetenz beweisen kann. Dazu zählt insbesondere die Sortimentskompetenz. Blöd wäre, wenn zu den von mir angebotenen Geräten über entsprechenden Vergleichsportale jeweils bessere und günstigere Angebote im Internet zu finden wären. Um diesem Problem vorzubeugen, bietet beispielsweise der US-Händler Best Buy alle Produkte in seinen Läden zu dem jeweils günstigsten im Web verfügbaren Preis an. Das schafft Vertrauen und das gute Gefühl, die beste Ware zum besten Preis erstanden zu haben.

Was bei Investitionsgütern funktioniert, weil ich hier den Kaufgegenstand vor Ort ausprobieren möchte und mich auch persönlich von einem Fachverkäufer beraten lassen möchte, bietet sich für Konsumgüter hingegen nicht an. Bei Konsumgütern zählt nicht zwingend der beste Preis oder die beste Leistung: alles entscheidend ist die Verfügbarkeit und die Beschaffenheit – wie z.B. die Frische oder das Verfallsdatum – der Ware.

Mit Beacons, mobile Coupons und ähnlichen Technologien ist dieses Bedürfnis nicht zu befriedigen. So sieht auch Alexander von Keyserlingk, Berater im Einzelhandel und Verfasser des Blogs slowretail.de, die "individuelle Kundenansprache und emotionale Kundenbindung" als Kernkompetenz des stationären Einzelhandels. "Läden mit Seele", so von Keyserlingk, "haben Zukunft." Doch positive Emotion kann man nur aufbauen, wenn die Basics wie Warenverfügbarkeit, Ordnung, Struktur und Warensichtbarkeit für positive Erlebnisse beim Shopper sorgen.

So muss man nicht jedem Trend hinterher laufen, um erfolgreich Handel zu betreiben. Es reicht, den Anspruch seiner Shopper zu erfüllen "das gesuchte Produkte in kurzer Zeit zum besten Preis" anzubieten. Ist ja ganz einfach, oder? In diesem Sinne: Happy Shopping!
Oliver Voßhenrich, POS TUNING
Udo Voßhenrich GmbH & Co. KG