Heft 8.2015: Getränke

Orangensaft ist gesund – aber kein Erfrischungsgetränk!

Die Stimmung in der Branche der deutschen Fruchtsafthersteller ist angespannt. Schon seit längerem belasten hohe Rohstoffkosten die Fruchtsafthersteller. Es geht dabei aber nicht nur um hohe Zuckerpreise, sondern auch um deutlich gestiegene Energie- und Frachtkosten. Als wäre dies für die Branche nicht bereits Last genug, zeigt sich am deutschen Fruchtsafthorizont schon seit einiger Zeit eine weitere dunkle Wolke: Die öffentlichen Diskussionen um die mögliche Erhebung eines Zwangspfands auf zuckerhaltige Getränke und Fruchtsäfte nehmen nicht nur in Deutschland, sondern europaweit an Intensität zu. Nun haben Wissenschaftler der Universität Hohenheim einmal genauer hingeschaut und im Rahmen einer aktuellen Humanstudie festgestellt: Orangensaft ist nicht nur einfach gesund, er ist sogar gesünder als die Orange.

Deutschland ist das Fruchtsaft-Land Nummer eins: In keinem anderen Land auf der Welt gibt es so viele Fruchtsaft-Hersteller. Es sind nicht weniger als 375 Unternehmen und damit hat jeder zweite Fruchtsaftbetrieb der EU hierzulande seinen Firmensitz. Auch beim Fruchtsaftkonsum hat Deutschland weltweit die Nase vorn. Mit einem Pro-Kopf-Konsum von derzeit rund 32 Litern Fruchtsaft, Fruchtnektar sowie Gemüsesaft und -nektar ist Deutschland einer der mengen- und absatzstärksten Fruchtsaftmärkte der Welt. Doch mittlerweile gibt es eine wachsende Lobby gegen den Zuckerkonsum. Zu diesen zählen Verbraucherverbände, Krankenkassen und bereits seit Jahren auch die Weltgesundheitsorganisation WHO, die dieses Jahr die empfohlene Menge für den Konsum von Zucker noch einmal von 12 auf 6 Teelöffel reduziert hat.

Forderungen der Anti-Zuckerlobby richten sich auch gegen Fruchtsäfte

Warum sich die Institutionen zu Wort melden, hat nur einen Grund: Die Menschen werden immer dicker und schlimm ist dies natürlich besonders, wenn das Übergewicht schon in der Kindheit Einzug hält. Ein weltweiter Trend also, der die Gesundheitsfürsprecher der betroffenen Länder auf den Plan ruft. Zwei Dinge sind dabei allerdings zu beachten: Zum Einen ist es in Europa noch lange nicht so schlimm wie in den USA und Kanada, die in Sachen Adipositas weit vorn liegen. Zum anderen sollte man sich nicht von den radikalen Forderungen dieser extrem "adipösen" Länder blind mitreißen lassen, die dort scheinbar wirklich den noch einzig möglichen Weg zum Umdenken darstellen. Denn Europa ist – was die Ernährungsgewohnheiten angeht - glücklicherweise (noch) nicht Amerika.

In Umfeld der lauter werdenden Stimmen gegen den Zucker sind schließlich auch die Fruchtsäfte und mit ihnen auch der Orangensaft vermehrt ins Kreuzfeuer der Kritik geraten. Die Orange ist seit langem wegen ihres hohen Gehaltes an gesundheitlich förderlichen Nährstoffen beliebt. Neben einer hohen Konzentration an Vitamin C verfügt sie über eine Vielfalt an Carotinoiden und Flavonoiden, die das Risiko für bestimmte Krebs- oder Herzkreislauferkrankungen senken können. Gegenüber der Frucht genießt der Orangensaft jedoch aufgrund seines relativ hohen natürlichen Zuckergehaltes neuerdings keinen guten Ruf. Für viele Ernährungsberater ist Zucker in Lebensmitteln ein grundsätzliches Übel. Sie raten daher anstelle von gepresstem Orangensaft eher zum Verzehr von Orangen. In England wurde sogar eine "Strafsteuer" auf alle Fruchtsäfte vorgeschlagen und Orangensäfte als "Junkfood" aus einigen Kindergärten verbannt. Dem steht nun eine aktuelle Studie der Universität Hohenheim gegenüber, die sich dem Thema "Wie gesund ist noch der Orangensaft?" eben nicht emotional, sondern analytisch genähert hat.

Probanden mussten zwei Wochen auf Tomaten, Spinat & Co. verzichten

Zur Vorbereitung der randomisierten Crossover-Studie, in der nach dem Zufallsprinzip entweder zunächst die Orange oder der Orangensaft verzehrt wurde, mussten die zwölf Probanden zunächst zwei Wochen völlig auf Carotinoide verzichten. Im Verlauf des sogenannten "Wash-out" waren grüne und rote Lebensmittel wie Tomaten, Karotten oder Spinat vom Speiseplan gestrichen und durften nicht verzehrt werden, damit die im Körper gespeicherten Carotinoide ausgewaschen werden. Anschließend erhielten die Probanden einmal ein standardisiertes Frühstück mit Orangen und eines mit pasteurisiertem Orangensaft. Zwischen den beiden Testphasen lagen 14 Tage. Nach dem Frühstück entnahmen die Wissenschaftler den Probanden innerhalb von knapp zehn Stunden acht Blutproben und bestimmten anschließend den Carotinoid-Gehalt.

In vitro-Modell simuliert Verdauungsprozess des menschlichen Körpers

Für die Studie stellte der Doktorand Julian Aschoff Saft aus einer der beliebtesten Orangensorten her: der Navel-Orange. "Wir haben sowohl Frischsaft, gewöhnlichen Direktsaft, als auch einen flash-pasteurisierten Saft hergestellt. Letzterer wird in Supermärkten oft gekühlt als "Premiumsaft" verkauft", so Aschoff zum Aufbau der Studie. "Die Freisetzung der Nährstoffe aus diesen drei Säften haben wir dann mit der aus der Frucht verglichen." Das Team um Prof. Carle benutzte hierfür ein in vitro-Modell des menschlichen Verdauungstraktes, einem weltweit üblichen Standardverfahren zur Bestimmung der Freisetzung von Nährstoffen aus Lebensmitteln, so Aschoff weiter: "Mit einem in vitro-Modell simulieren Forscher die Prozesse im menschlichen Körper. Wir schufen so im Reagenzglas nacheinander die gleichen Bedingungen wie sie im Mund, Magen und Dünndarm bei der Verdauung von Orangen und Orangensaft herrschen."

Neben dem Nachahmen des menschlichen Kaueffekts, um die Früchte zu zerkleinern, gaben die Wissenschaftler auch Speichel, Verdauungsenzyme und Gallenflüssigkeit hinzu, modellierten die Bewegungen der Lebensmittel im Magen-Darm-Trakt und führten die Untersuchungen bei Körpertemperatur durch. Das Ganze geschah ausschließlich im Dunkeln, erklärt Aschoff, damit lichtempfindliche Inhaltsstoffe erhalten bleiben.

Nährstoffe aus Saft besser verfügbar als aus der Frucht

Die Freisetzung der Carotinoide, die als Provitamin-A eine wichtige Rolle im menschlichen Körper spielen, stieg von 11% in der Frucht auf über 28% im Frischsaft und bis zu 40% im pasteurisierten Saft. Damit sind Carotinoide aus dem Saft potentiell 4-fach besser bioverfügbar als aus der Frucht. Die Ergebnisse zeigen, dass der Körper die Nährstoffe aus dem Saft potenziell besser aufnehmen kann als aus der Frucht selbst, sagt Prof. Dr. Carle, Inhaber des Lehrstuhls für Technologie und Analytik pflanzlicher Lebensmittel und Initiator der Studie. "Zwar werden die Carotinoid- und Vitamin C-Gehalte bei der Saftherstellung geringfügig vermindert", sagt Prof. Carle. "Gleichzeitig aber nimmt die Freisetzung dieser Inhaltsstoffe und somit der Anteil, den der Körper aufnehmen und verwerten kann, um ein Vielfaches zu."

Von Nektar wird abgeraten

Egal, ob der Verbraucher nun den Frischsaft, den Direktsaft oder den Saft aus Konzentrat bevorzugt – sie alle seien maßvoll konsumiert gesund und zu empfehlen. "Da der Obst- und Gemüseverzehr in Deutschland weit unter den Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung liegt, kann der Konsum von Orangensaft zu einer gesunden Ernährung beitragen", so Prof. Carle. Nur von einem rät der Experte der Universität Hohenheim ab: Orangennektar. "Der Begriff Nektar hört sich zwar gut an und suggeriert, dass es als "Trank der Götter" ein besonders hochwertiges Produkt sei", so Prof. Dr. Carle. "In Wirklichkeit wird Nektar aber zur Hälfte mit Wasser gemischt und dann mit Zucker angereichert, damit er genauso süß ist wie ein Saft." Am Ende enthält er zwar genauso viel Zucker wie ein Orangensaft – aber nur die Hälfe der Vitamine. "Wer sich gesund ernähren will, sollte die Finger besser von Orangen-, Apfel- und Ananasnektar lassen. Nektare haben nur dann eine Berechtigung, wenn 100%-Säfte aufgrund des hohen Säuregehalts der Frucht (z. B. Sauerkirsche und Johannisbeere) oder ihrer Zähflüssigkeit (z. B. Banane und Aprikose) als solche nicht genießbar sind."

Im Vergleich zu Cola enthält Orangensaft weder das für Kinder ungeeignete Koffein noch die allgemein bedenkliche Phosphorsäure. Außerdem wird Orangensaft im Vergleich zu Erfrischungsgetränken, zu denen auch Cola zählt, üblicherweise nicht zum Löschen des Durstes getrunken. "Kaum ein Konsument hat Zeit, täglich genug Gemüse oder Früchte zu sich zu nehmen. In Maßen konsumiert, also ein Glas mit 200 ml pro Tag, kann Orangensaft so zu einer gesunden Ernährung beitragen und uns mit den Nährstoffen versorgen, die unser Körper benötigt." Viel wichtiger als mit ungezügeltem Aktionismus Zucker und mit Zucker versetzte Produkte grundsätzlich zu dämonisieren, ist die Frage, wie man die Verbraucher zu einer gesundheitsfördernden und dennoch selbstbestimmten Lebensweise lenken kann. Eine der grundsätzlichen Herausforderungen, die sich dabei stellen, ist die Motivation zu mehr Bewegung. Weiterhin gilt für die meisten Produkte immer noch der Leitsatz "Die Dosis macht das Gift" und übermäßiger Konsum endet früher oder später immer in der Ausbildung vermehrter gesundheitlicher Defizite. Selbiges gilt eben auch für den Orangensaft: Wer diesen konsumiert wie Mineralwasser führt sich natürlich unverhältnismäßig viel Fruchtzucker zu, der dann natürlich zu einer Gewichtszunahme führt. In Maßen allerdings getrunken, ist Orangensaft eine Quelle zahlreicher wertvoller Nährstoffe.

Mehr Augenmaß bei ernährungspolitischen Maßnahmen

Für die Umsetzung zukünftiger ernährungspolitischer Maßnahmen wäre daher immer auch eine Handvoll Augenmaß zu wünschen. Denn sonst sieht die Zukunft eher so aus, wie es Johanna Bayer in ihrem Beitrag zu dem Film "ARTE und die große Zuckerlüge: Warum wir uns das nicht sagen lassen müssen" nicht ohne eine Portion Zynismus skizziert: "Trotzdem gibt es immer wieder Beseelte und Aktivisten, die versuchen, solche Anklagen zu lancieren. Ich sehe sie vor mir: Fleischgegner drehen schon einen Film gegen Fleisch, Veganer wünschen einen gegen alles vom Tier, Paläo-Steinzeitfans planen ein Splatter-Movie gegen Getreide, Milch und Hülsenfrüchte, die Anti-Gluten-Fraktion arbeitet an einem Gruselschocker speziell gegen Weizen und der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach bereitet einen Horrorfilm über Salz vor." Dem ist eigentlich nichts mehr hinzuzufügen.