Think digital, act analog: Das neue Zeitalter im Einzelhandel

Von Wolfgang Gruschwitz, Gründer und Geschäftsführer der Gruschwitz GmbH

Aktuell steht der Niedergang des stationären Handels im Zentrum der Aufmerksamkeit. Es wird viel lamentiert und geklagt. Was wir alle fast täglich spüren: Viele lokale Stores, darunter mit Sicherheit auch der ein oder andere Lieblingsladen, sind bereits den Vorteilen des Online-Shoppings erlegen und weitere werden folgen. Bestehende und lange Zeit gültige Spielregeln im Einzelhandel sind mit einem Schlag vom Tisch gefegt. Doch was kommt jetzt? Und wie am besten reagieren? Digital gewinnt, analog ist tot. Stimmt nicht. Analog ist wahrscheinlich lebendiger als zuvor, besetzt aber eine neue Nische.

Die neuen Chancen, die sich für den Handel ergeben, werden oft ausgeblendet. Der Kunde erledigt einen großen Teil des Einkaufens schließlich immer noch stationär. Der Zerfall im Retail ist nur ein Teil des disruptiven Prozesses, dem wir derzeit unterliegen: Aufbau, Zerlegung, Wiederaufbau - in der Veränderung liegt die Beständigkeit. Die Zeit von pauschalen Allgemein-rezepten ist endgültig vorbei, gefragt sind neue Denkansätze, insbesondere solche, bei denen, ganz im Sinne der Nachhaltigkeit, Bewährtes neu kombiniert wird. Nach wie vor geht es um eine perfekte Abstimmung auf die jeweiligen Kundenbedürfnisse. Dabei ist ein konzentriertes Auftreten entscheidend. Im Sinne eines "curated product placement" sollte ganz bewusst das angeboten werden, was der Kunde gerade braucht. Klassische Servicestrukturen müssen gegebenenfalls aufgebrochen und gezielt zum Kunden gebracht werden, um Frequenz abzugreifen und, noch wichtiger, diese neu zu erzeugen. Gefragt sind mobile Stores sowie temporäre POS-Aktivitäten. Indirekte Mehrwerte helfen, die Glaubwürdigkeit und Kompetenz der Marke auf den Handel zu übertragen und damit eine Sogkraft zu generieren, die die Aufmerksamkeit der Kunden weckt und sie im Idealfall zu Fans werden lässt. Die Herausforderung in der nahen Zukunft liegt darin, Frequenz zu schaffen.

Entscheidend ist dabei nicht, was, wie oder wo man kauft, sondern einzig und allein die Frage nach dem Warum. Hier setzt das Kopfkino an und je authentischer eine Geschichte vermittelt wird, desto höher die Begierde. Diese darf an manchen Stellen durchaus brüchig sein, wesentlich ist, dass der Gesamteindruck stimmt. Zu harmonisch und einheitlich kommt schnell als altbacken und langweilig daher. Besser ist eine sich selbst entwickelnde Story mit individueller Auflösung. Je pfiffiger, klarer und vor allem authentischer diese ist, desto erfolgreicher ist das Konzept.

Der Analogie des Einzelhandels als Gegenpol zum Digital Retail kommt dabei eine zentrale Bedeutung zu: Die Kunst des Handwerks, die persönliche Beziehung zum Kunden sowie der damit verbundene sensible Umgang mit den persönlichen Daten wird für den Kunden immer wichtiger. Dabei geht es keineswegs um einen radikalen Rückschritt. Doch gerade nach einer gewissen Wild-West-Manier im Umgang mit der Datenspeicherung im Netz und entsprechenden Missbrauch-Skandalen, reagiert der Verbraucher immer sensibler. Selbstverständlich liefert der Einsatz digitaler Technologien spannende neue Möglichkeiten, entspricht unserem Zeitgeist und macht uns wettbewerbsfähig. Auf digitale Kundendaten kann heute niemand mehr verzichten. Sich selbst überlassen, besteht allerdings die Gefahr zum Wildwuchs und zu einer digitalen Verstumpfung. Think digital, act analog: So viel digital wie nötig und so viel analog wie möglich wird die entscheidende Überlebensformel im Einzelhandel sein. Der Kunde möchte sich gut aufgehoben fühlen. Genau hier sollte der stationäre Verkauf ansetzen, denn Empathie und Einfühlungsvermögen zählen zu den klassischen Stärken des "hand selling". Als Warenhaus mögen stationäre Shops ausgedient haben, aber die menschliche Beziehung lässt sich nicht so einfach über Algorithmen virtuell abbilden. Andersherum kann der Handel die Vorteile der Digitalisierung durchaus für sich nutzen. Warum nicht einmal den Like-It-Button im Shop haptisch erlebbar machen und durch einen Abreißkalender ersetzen, der im Hintergrund die Anzahl der Abrisse digital mitzählt? Oder als digitale Unterstützung in der individuellen Verkaufsberatung einen Magic Mirror in die Umkleidekabine einsetzen?

Weitere Gestaltungsfaktoren, die eine verstärkende Wirkung in lokalen Läden haben und dabei helfen, sich vom reinen Internet-Shopping abzugrenzen, sind z.B. eine geschickte multisensuale Ansprache über den gezielten Einsatz von Düften oder Verkostungen, möglicherweise sogar über die Integration einer eigenen Tagesbar. Aber auch heimelige Rückzugsinseln, die zum entspannten Verweilen einladen (Cocooning) oder der Einsatz von Humor über beispielsweise großflächige Images können das jeweilige Konzept möglichst ansprechend inszenieren und dieses damit als einzigartig im Kopf der Klientel verankern.

Beim Online-Shopping steht die Bequemlichkeit im Vordergrund: 24/7 Verfügbarkeit, günstige Preise sowie ein exzellenter Lieferservice bestimmen maßgeblich die Beliebtheit im Netz. Der Besuch im stationären Shop wird sich aber immer noch weiter lohnen, nämlich dann, wenn der Kunde immer wieder mit neuen Ideen inspiriert wird. Dafür wird auch gerne mehr bezahlt oder auf einen persönlichen Verkaufstermin gewartet. Während bei der virtuellen Seite also Convenience im Vordergrund steht, geht es auf der realen Seite um den Erlebniskauf.

Der analoge Bereich hat also nach wie vor seine Existenzberechtigung und hält immer noch großes Potential bereit, wenn er sich dabei klar vom digitalen Verkauf abgrenzt und selbstbewusst seine Nische bedient. Wichtig ist, digital und analog weniger als konkurrierende Modelle, sondern vielmehr als zwei Seiten derselben Medaille mit fließenden Übergängen zu begreifen.

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